Peter Gray
Widerstände gegen den fundamentalen Wandel im Bildungswesen
Weshalb Bildungsreform außerhalb des Schulsystems stattfinden muss
In früheren Artikeln habe ich Belege für die folgenden Behauptungen vorgestellt:
1) Der kindliche Instinkt, selbständig zu spielen und zu forschen, bildete die Grundlage der Bildung im Lauf unserer langen Geschichte als Jäger und Sammler.
2) Die heutigen Kinder können sich sehr gut selber bilden, ohne Zwang oder Aufforderung bzw. Führung durch Erwachsene, sofern ihnen ein Umfeld zur Verfügung gestellt wird, das ihren Spiel- und Forschertrieb unterstützt.
3) Herkömmliche Schulen wurden zu dem was sie heute sind aufgrund von historischen Umständen, die die Menschen dazu bewogen, das Spiel abzuwerten, zu meinen, der Wille von Kindern müsse gebrochen werden, und zu glauben, alles Nützliche, inklusive Lernen, erfordere Mühe.
Heute verstehen viele Leute den erzieherischen Wert von freiem Spiel und Forschen, bedauern, dass den Kindern verhältnismäßig wenig Gelegenheit für solche Aktivitäten gegeben wird und glauben, dass der kindliche Wille eine positive Kraft für ihre Entwicklung, Bildung und Lebensfreude ist. Aber die Schulen funktionieren immer noch auf dieselbe Art. Tatsächlich nehmen konventionelle Beschulung und ähnliche, von Erwachsenen geführte Tätigkeiten einen immer größeren Bruchteil der Lebenszeit von Kindern ein. Warum ist es so schwierig, diesen Trend umzukehren? Warum fällt es so schwer, grundlegende Veränderungen innerhalb des Schulsystems durchzusetzen?
Ich behaupte nicht, auf diese Fragen eine vollständige Antwort zu wissen, aber hier folgt nun eine Skizzierung meiner Gedanken zu den Kräften, die es so schwierig machen, das Bildungssystem fundamental zu verändern.
Die Normalität der herkömmlichen Bildung
Wie Sozialpsychologen oft feststellen, nehmen Menschen Erstaunliches auf sich, um normal zu erscheinen. Wenn wir uns anders verhalten als die Norm, lehnen uns unsere Mitmenschen vielleicht ab, und für uns als soziale Wesen gibt es nichts Schlimmeres als Ablehnung. Wenn in einer bestimmten Kultur jeder die Füße der Mädchen abbindet und sie dadurch verkrüppelt, dann tun das selbst die Eltern, die an eine solche Praxis nicht glauben, nur damit ihre Töchter nicht auffallen. Und wenn in der Nachbarschaft alle Kinder eine konventionelle Schule besuchen, dann wird man ein Kind, das etwas völlig anderes tut, möglicherweise als absonderlich ansehen, und die Eltern außerdem als nachlässig.
Als Beleg dafür, in welchem Maß wir Kinder heutzutage mit ihrer normalen Beschulung identifizieren, höre man sich fast jede beliebige Unterhaltung zwischen einem Erwachsenen und einem Kind an, das er gerade kennen gelernt hat: “In welche Klasse gehst du denn?”, “Welches Schulfach hast du am liebsten?”, “Magst du deine Lehrerin?”, “Freust du dich darauf, zur Schule zu gehen?”, … . Wir müssen ganz neue Wege finden, um Kinder anzusprechen, die solche Schulen nicht besuchen.
Neuartige Schulen, deren Prinzipien von denen herkömmlicher Schulen stark abweichen, ziehen verhältnismäßig wenige Studenten an, selbst aus der Gruppe derer, die an ihre Prinzipien glauben, und zwar wegen ihrer Angst etwas zu tun, das anormal aussieht. Kinder, die sich dann doch für den Besuch einer solchen Schule entscheiden, brauchen eine Menge soziale Unterstützung, um diese Angst zu meistern, und ihre Eltern erst recht.
Die sich selbst erfüllenden Prophezeiungen der konventionellen Beschulung
Die konventionelle Beschulung hat Denk- und Handlungsweisen Vorschub geleistet, die ihre eigenen Prämissen zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen machen. Diese Prämissen erscheinen wahr, weil wir sie im Rahmen der herkömmlichen Beschulung bewerten, und mit den Kriterien, die diese festgelegt hat.
Ein Beispiel einer solchen Prämisse ist: “Schulen müssen Kinder zum Lernen motivieren.” Unzählige Male habe ich Eltern getroffen, die glauben, dass unkonventionelle Schulen wie Sudbury Valley gut bei “selbstmotivierten Kindern” funktionieren, aber nicht bei ihren eigenen, da diese “nicht selbstmotiviert” seien. Und die Kinder glauben das oft auch. Sie sagen Dinge wie, “Ich brauche Lehrer, die mich antreiben, sonst tue ich den ganzen Tag nichts.” Wieso meinen Menschen in unerer Kultur, dass Kinder im Schulalter nicht viel lernen, wenn man sie sich selbst überlässt? Fast niemand denkt so über jüngere Kinder, und in Jäger-und-Sammler-Kulturen denkt man es gar nicht.
Ein Grund für die Meinung, dass Kinder im Schulalter keine Lust haben selbständig zu lernen, stammt daher, dass in unserer Kultur im Allgemeinen die vom Schulsystem vorgegebene Definition von Lernen gilt. Wenn wir Lernen definieren als das Erledigen von Hausaufgaben oder von Arbeiten mit einem hausaufgabenähnlichen Charakter, dann ist es sicher richtig, dass nicht beschulte Kinder und solche, die freie Schulen besuchen, wenig Zeit mit Lernen verbringen. Stattdessen beschäftigen diese sich auf unvorhersehbare Weise mit Spielen und Erforschen und erwerben das Wissen und die Fertigkeiten ihrer Kultur nebenher.
Ein weiterer Grund für die genannte Meinung liegt darin, dass Kinder, die die ganze Zeit an einer konventionellen Schule verbringen und dort Prüfungen ablegen und Aufgaben erfüllen, die sie nicht wollen, sich nachmittags gerne entspannen oder austoben, so wie ihre Eltern nach einem stressigen Arbeitstag. Dies vermindert ihre Möglichkeiten, sich völlig der Art von Spiel, Erforschung und Unterhaltung hinzugeben, die wir am ehesten als lehrreich empfinden.
Noch ein Beispiel für eine sich selbst erfüllende schulische Prophezeiung ist, dass gute Leistungen in der Schule anschließenden Erfolg verheißen. Wir Erwachsenen haben diese Vorhersage wahr gemacht, indem wir für die Kinder eine Welt aufgebaut haben, in der wir Erfolg vor allem mit hoher schulischer Leistung verknüpfen. Die Aufgabe der Kinder besteht darin, in der Schule gute Noten zu bekommen, und dafür gibt es jede Menge Anreize. Gute Noten sind das Kriterium, um in die nächsthöhere Klasse des abgestuften Schulsystems aufzusteigen, um es ins Ehrenbuch zu schaffen, um sich für die Teilnahme an Sportveranstaltungen zu qualifizieren, um ins Gymnasium aufgenommen zu werden, um die Mitgliedschaft in begehrten Clubs zu erhalten, um den Erwachsenen zu gefallen und so weiter. Mit all diesen Messwerten für Erfolg verheißen hohe schulische Leistungen, wie sie mit Noten bewertet werden, natürlich auch gute nachfolgende Aufstiegschancen.
Wir werden außerdem ständig mit Statistiken konfrontiert, die eine Korrelation zwischen der Anzahl von Studienjahren und beruflichem Erfolg, wie er sich im Einkommen niederschlägt, nachweisen. Es gibt aber viele Erklärungen für diese Korrelation, die nichts mit Lernen zu tun haben. Hier sind drei davon:
- Wir haben eine Welt geschaffen, in der einige hochbezahlte Jobs wie Jurist, Mediziner und Manager normalerweise eine längere Studienzeit an höheren Schulen erfordern. In einer solchen Welt korrelieren die Studienjahre unweigerlich mit dem Einkommen.
- Wir haben eine Welt geschaffen, in der “Erfolg” mehr oder weniger definiert wird als das Vorweisen guter Noten im Kindes- und Jugendalter und danach als das Beziehen eines hohen Einkommens. In einer solchen Welt arbeiten die im klassischen Sinne sehr erfolgsorientierten Menschen hart für gute Noten in der Schule und für Geld im Erwachsenenleben; und schon haben wir eine Korrelation. In dieser von uns errichteten Welt besuchen außerdem nur sehr wenige Menschen keinekonventionelle Schule, weswegen es für Eltern und Kinder kaum Vorbilder gibt, wie man es auf anderen Wegen zum Erfolg bringen kann.
- Kinder aus wohlhabenden Familien können sich mehr Schulbildung leisten als solche aus ärmeren Familien, und die bekommen sie auch. Für diese reicheren Kinder gibt es außerdem mehr Gelegenheiten zu hochbezahlten Jobs aufgrund von Beziehungen und vielen anderen Vorteilen als für jene aus ärmeren Häusern. Auch dadurch entsteht die Korrelation zwischen Studienzeit und späterem Einkommen.
Aus diesen und anderen Gründen ist ein allgemeiner Zusammenhang zwischen Schulbildung und “Erfolg” unausweichlich in unserer Welt. Es gibt jedoch keine statistische Möglichkeit zu wissen, ob irgendetwas an diesem Zusammenhang mit dem zu tun hat, was an Schulen tatsächlich gelernt wird.
Die Verwurzelung des Bildungsgeschäfts
Eine weitere Erklärung für die Trägheit, die dem echten Wandel unseres Bildungssystems entgegenwirkt, hat mit der weitreichenden, stark verwurzelten Natur des Bildungsgeschäfts zu tun. In den Vereinigten Staaten arbeiten derzeit* 6,8 Millionen Menschen als Lehrkräfte. Entgegen der landläufigen Meinung wird ein Lehrer besser bezahlt als ein durchschnittlicher Angestellter, und der Lehrerberuf bietet zahlreiche andere Vorzüge, darunter normalerweise Arbeitsplatzsicherheit, ausgezeichnete Ruhestandsregelungen und jede Menge Urlaub. An den pädagogischen Universitäten, die auf das Lehramt in konventionellen Schulen vorbereiten, arbeitet ein Großteil des höheren Bildungsestablishments. Die Lehrmittelindustrie hat ebenfalls mächtigen Einfluss und ist sehr lukrativ. Eine radikale Veränderung unseres Bildungssystems würde all dies in Aufruhr versetzen. Sie würde unseren Bedarf an Lehrkräften, wie sie heute definiert sind, verschwinden lassen, genauso wie den Bedarf an pädagogischen Hochschulen und den meisten, wenn nicht allen Schulbüchern.
Viele Menschen in unserer Kultur haben ein wirtschaftliches Interesse daran, das herkömmliche Bildungssystem nicht nur zu erhalten, sondern sogar noch auszuweiten. Je mehr Stunden und Jahre junge Menschen in der Schule verbringen müssen, desto mehr Lehrkräfte, Schulverwalter, Professoren der Pädagogik und Schulbuchautoren und -verleger können beschäftigt werden. Das Bildungsgeschäft funktioniert wie jedes andere Geschäft: Es versucht unentwegt zu wachsen zum Wohl derer, die von ihm profitieren.
Die Lehrmittelindustrie zieht ihre Gewinne aus kleinen Veränderungen und Modeerscheinungen. Neue Ideen, wie man Kinder motiviert, neue Fächer und neue Methoden für das Lehren alter Fächer (etwa die “ganz neue Mathe-Methode”) schaffen Jobs für Pädagogiklehrer und Schulbuchverleger. Aber ein grundlegender Wandel, wie ich ihn verschiedentlich beschrieben habe, würde das alles umkippen.
Allmähliche Veränderung führt zu nichts
Eine andere Hürde auf dem Weg zu der Veränderung, die ich beschrieben habe, ist die Tatsache, dass sie innerhalb einer Schule oder eines Schulsystems nicht allmählicherfolgen kann. Diese Veränderung erfordert einen Paradigmenwechsel von einer Situation, in der die Lehrer den Bildungsprozess bestimmen, zu einer, in der jeder Studierende für sein Lernen wirklich selber verantwortlich ist. Das lässt sich nicht schrittweise durchführen. So lange die Lehrer das Programm festlegen, unabhängig davon wie viele Wahlmöglichkeiten sie innerhalb dieses Programms anbieten, werden die Studenten es als die Aufgabe der Lehrer empfinden, zu entscheiden was gelernt wird, nicht als ihre eigene. Und so lange die Lehrer die Lernfortschritte der Studenten bewerten, gleichgültig wie sie es tun, werden die Studenten das Gefühl haben, dass sie den Erwartungen der Lehrer zu entsprechen haben, statt ihre eigenen festzulegen und zu erfüllen.
Tatsächlich können größere Wahlfreiheit und weniger klare Bewertungsmethoden im klassischen Schulsystem für die Studenten eine zusätzliche Belastung bedeuten. Nach solchen “liberalen” Veränderungen muss plötzlich jeder Student raten, was die Lehrer von ihm erwarten, und über die wirklichen, unausgesprochenen Bewertungskriterien spekulieren. Schule wird so zu einer Übung in Gedankenlesen. Ich selbst glaube, dass die gütigste Art und Weise des Lehrens im konventionellen Schulsystem darin besteht, Anforderungen und Maßstäbe möglichst eindeutig zu formulieren, damit Studenten ihnen entsprechen können, ohne fürchten zu müssen, dass sie die falschen Dinge lernen.
Man kann auch nicht davon ausgehen, dass sich im klassischen Schulsystem die Benotung nach und nach abschaffen lässt. Nehmen wir an, man nimmt ein Fach ins Programm auf, in dem die Schüler nicht benotet werden. Was dann passiert, ist, dass die allermeisten Studenten in diesem Fach nichts leisten werden, selbst wenn sie es möchten. In einem System, in dem andere Fächer benotet werden, betrachtet man das unbenotete Fach als irrelevant. Wie soll ein guter Student es rechtfertigen, Zeit in ein Fach zu investieren, in dem nicht bewertet wird, wenn die Bewertung in anderen Fächern erfolgt? Damit diese Mentalität sich wandelt, muss das System als Ganzes verändert werden.
Wie der Wandel vonstatten geht
Eine fundamentale Veränderung des Bildungswesens passiert trotz alledem, und zwar außerhalb des traditionellen Schulsystems. Sie passiert in Gruppen von Familien, die entscheiden, ihre Kinder zu “entschulen”, d.h. sie zu Hause auf eine freie Art und Weise zu bilden, ohne Programm oder Leistungsbewertung, und unter Leuten, die nicht-schulische Schulen gründen, in der Art der Sudbury Valley Schule. Mitglieder dieser Bewegungen legen gemeinsam eine Reihe von neuen sozialen Normen fest, die es ihnen erlauben, Hindernisse gegenüber von Verhaltensweisen zu überwinden, die andere als nicht normal ansehen. Ihre Beobachtung von Kindern, die sich selber bilden, führt dazu, dass sie Lernen in einem neuen Licht wahrnehmen, als etwas, das man bewundert und genießt, aber nicht kontrolliert. Sie beginnen zahlreiche Beispiele von Menschen kennen zu lernen, die sich außerhalb des herkömmlichen Schulsystems frei und zufrieden selbst gebildet und anschließend zu einem in jeder erdenklichen Form erfolgreichen Leben gefunden haben, und entlarven die sich selbst erfüllenden Prophezeiungen der konventionellen Beschulung als das, was sie sind.
Es gibt keinen Grund pessimistisch über die Zukunft der Bildung zu sein. Wir müssen nur erkennen, dass es keine echten Reformen im Rahmen des etablierten Schulwesens geben wird. Sie werden weiterhin außerhalb dieses Systems stattfinden. Die schrittweise Veränderung die passiert ist, dass immer mehr Menschen die konventionelle Beschulung verlassen. Um das zu gewährleisten, müssen wir dafür sorgen, dass jeder gesetzlich dazu berechtigt ist, auszusteigen. Auf politischer Ebene sollte das für all jene die höchste Priorität darstellen, die eine Welt herbeisehnen, in der Kinder sich frei und glücklich entfalten können und in der ihnen die volle Erfahrung von Demokratie und der damit verbundenen Rechte und Pflichten gegönnt ist. ++
Übersetzung: Georges Pfeiffenschneider
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*2008